Das Wochenende steht vor der Tür. Ich will mir endlich Gedanken machen, wie ich ein neues berufliches Projekt, das mir persönlich am Herzen liegt, auf den Weg bringe. Da ruft eine Freundin an: „Trinkst du einen Kaffee mit mir? Ich würde dich gerne sehen…!“
Manchmal haben wir zwei Seelen in unserer Brust, wie Goethe das so schön sagte. Die Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit ist eine uralte Spannung, die Menschen antreibt und umtreibt.
In der TA gehören diese beiden Pole nicht umsonst zum Basiskonzept.
Jeder Mensch ist einzigartig und strebt sein Leben lang nach seinem eigenen Ausdruck, will sich selbst entwickeln und verstehen, seinen persönlichen Platz in der Welt haben. Gleichzeitig können Menschen ohne den Kontakt zu anderen nicht leben. Zu ihrem Grundbedürfnis gehört unbedingt, dass sie sich im anderen – oder in der Natur – spiegeln, verstanden fühlen und Resonanz finden wollen. Menschen können nur in Verbundenheit mit anderen Menschen und ihrer Umwelt existieren und wachsen.
Ich wage jetzt zu behaupten, dass diese beiden Pole gar keinen Widerspruch darstellen.
Es fühlt sich vielleicht an wie zwei Seelen in unserer Brust, ist aber im Grunde nur eine.
Stellen wir uns vor, wie ein Mensch geboren wird.
Als Baby. Komplett abhängig. Verbundenheit pur. Ohne dass es gut versorgt und beschützt wird, stirbt es. Ohne Kontakt ist es nicht lebensfähig. Und gleichzeitig ist jedes noch so winzige Baby von Anfang an eigen. Keins reagiert wie das andere. Eltern von mehreren Kindern können ein Lied davon singen.
Neue psychologische Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass Babys – auch wenn sie äußerlich abhängig sind – bereits hoch kompetent sind in ihrem Selbstausdruck. Sie kooperieren aktiv mit ihren Bezugspersonen und wenn sie sich sicher gebunden fühlen, beginnen sie früh mit der Welterkundung, mit Autonomiebestreben.
Ich vermute, dass kleine Kinder nicht diese Spannung zwischen diesen Polen empfinden, sie bewegen sich völlig natürlich und unbekümmert darin. Wenn sie Sehnsucht nach einem Menschen haben, suchen sie ihre Bezugspersonen auf und zeigen deutlich, was sie brauchen. Sie schreien, krabbeln auf den Schoß, wollen kuscheln, spielen, Nahrung, Haut spüren. Wenn sie genug davon haben, wenden sie sich ab und wieder der Welterkundung zu.
Sie können sich zum Glück noch nicht dafür entschuldigen, dass sie jetzt genug Kontakt hatten und wieder ein Weilchen für sich allein sein wollen. Sie tun es einfach. Ich vermute, dass beide Bedürfnisse für sie völlig natürlich sind, wie ein Pendel, mit dem sie intuitiv zwischen beiden Polen hin und her schwingen. Weil beides Lebendigkeit bedeutet und weil beides für ihre Entwicklung und ihr Lernen eine hervorragende Basis bildet.
Der scheinbare Widerspruch entsteht erst dadurch, dass kleine Kinder schon ganz früh, spätestens mit Beginn des Spracherwerbs mit Normen konfrontiert werden, mit Glaubenssätzen gehemmt, gefördert und gelenkt werden. Oft genug wird dabei geschlechtsspezifisch ein Pol gefördert und der andere gehemmt:
Sei ein starker Junge! Zeig was du kannst! Gib nicht nach…!
Oder:
Sei nicht so dominant! Warte bis du an der Reihe bist! Hilf immer erst den anderen, stell dich selbst zurück….!
So entsteht in der Eltern-Ich-Instanz des kleinen Kindes sehr oft der Widerspruch zwischen Selbstbewusstsein und Beziehungsorientierung. Wir fangen an zu glauben, dass es nicht beides geben kann. Stark sein und sich verbunden fühlen. Für andere da sein und nein sagen dürfen.
Um diese ungesunden Einschränkungen zu durchschauen und nach und nach wieder ablegen zu können, braucht es oft ein halbes Leben. Oder ein ganzes.
Die Modelle der TA sind dafür sehr hilfreich.
Ein Zeichen von gesunder Autonomie ist in der TA, dass Menschen in der Beziehung zu anderen echten und ehrlichen Kontakt herstellen können. Frei von Floskeln, persönlich, respektvoll und wach. Das wird die Fähigkeit zur Intimität genannt. Ein weiteres Merkmal von Autonomie ist die Bewusstheit des eigenen Tuns und Seins, das Erkunden der persönlichen Lebensgeschichte mit all ihren Facetten. Und es gilt, die Verantwortung dafür im Hier und Jetzt zu übernehmen. Ein drittes Merkmal ist Spontaneität. Das bedeutet, im Hier und Jetzt angemessen reagieren zu können. Nicht stereotyp wie in früheren Zeiten. Sondern vielfältig und kreativ und im Bewusstsein der aktuellen Situation. Die Frage dazu lautet: Was passt JETZT?
Übrigens hat Egozentrik nichts mit echter Autonomie zu tun. Menschen, die nur um sich selbst kreisen, sich größer machen als sie sind und respektlos sprechen und handeln, fehlt vermutlich Selbstakzeptanz und die Fähigkeit, sich für andere Sichtweisen zu öffnen.Die innere Grundhaltung, aus der solche Menschen agieren, ist die der Abwehr und der Angst.
Ein Merkmal von Verbundenheit in der TA ist Offenheit für andere, bewertungsfrei. Zuhören. Anderen Unterstützung anbieten und sie gerne geben – ohne sich selbst aufzugeben. Verbundenheit schließt Demut mit ein. Und radikalen Respekt für Menschen, die anders sind als wir. Zum Beispiel Menschen, die geflohen sind und Hilfe brauchen.
Autonomie schließt Verbundenheit ein. Und umgekehrt.
Was hilft, um beides zu leben? Üben, sich klar zu äußern, was gut tut und was nicht.
Was das eigene Bedürfnis ist. Verstehen, dass andere andere Bedürfnisse haben. Hilfreich ist auch, wenn Menschen neu lernen, sich mit sich selbst zu befreunden, ja, sich selbst zu lieben. Das ist aus Sicht der TA die Basis für echte Verbundenheit mit anderen Menschen.
Übrigens, ich bin mit meiner Freundin Kaffee trinken gegangen! Spontan und ungeplant. Ich habe ihr von meinem Projekt erzählt und sie hat mir aufmerksam und offen zugehört. Jetzt beflügelt ein guter Gedanke von ihr mich und mein Projekt…