Gefühle in Dissonanz

Bild: Mael Balland, Unsplash

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Beim Wochenendeinkauf treffe ich eine gute Bekannte und wir erzählen uns offen ein bisschen aus unserem Leben.
Sie sagt: „Meine Chefin hat mich gestern in meinem Team vor allen bloßgestellt und mir eine Szene gemacht, ich bin ganz schön fertig deswegen!“ Ich schaue sie an und sehe sie mühsam lächeln während sie mir das erzählt.
Ich sage: „Oh, das ist aber doof, dass sie das direkt vor deinen Kolleginnen macht!“
„Na ja, sie wusste es halt nicht besser, aber kränkend war es schon für mich,“ erzählt sie weiter, „ ich werde wohl drüber hinweg kommen, jetzt ist ja erstmal Wochenende…“
Wieder sehe ich, wie sie mich dabei anlächelt. Mir wird ganz komisch. Ich mag sie gar nicht mehr anschauen. Es fühlt sich in mir augenblicklich so an, als hätte ich zwei verschiedene Schuhe an den Füßen, wackelig und irgendwie falsch.

Was passiert hier gerade?

Meine Bekannte erzählt von einer Kränkung und drückt durch ihr Lächeln Zufriedenheit oder Freude aus. Normalerweise wäre Ärger über das Verhalten der Chefin ein angemessenes Gefühl oder zumindest Enttäuschung. Bei beiden Gefühlen würden ihre Mundwinkel sich nicht zu einem Lächeln verziehen. Normalerweise.
Ich vermute, dass meine Bekannte keinen Ärger oder Empörung fühlt. Irgendetwas in ihr wählt stattdessen den Ausdruck von Wohlergehen und sie lächelt. Wie kann das entstehen?

Ersatzgefühle entstehen in der Kindheit

Bild: Kelly Sikkema, Unsplash

Bild: Kelly Sikkema, Unsplash

In der TA sprechen wir von Ersatzgefühlen, die wir in der Kindheit lernen. Zum Beispiel dann, wenn im Leben unserer Eltern (oder anderer wichtiger Bezugspersonen) das Grundgefühl Ärger keinen Platz und keine Ausdrucksform hat. Dadurch „verbieten“ die Erwachsenen unbewusst dem Kind, dieses Gefühl wahrzunehmen und zu fühlen. Weil Emotionen wie Ärger, Traurigkeit, Angst, Schmerz und Freude aber basal in jedem Menschen als wichtige Grundausstattung angelegt sind, wird ein Ersatzgefühl für das nicht erlaubte Gefühl vom Kind gesucht und stattdessen ausgedrückt. Für dieses Ersatzgefühl bekommen wir als Kinder dann die überlebenswichtige Anerkennung und Zuwendung – und dafür tun wir als kleine abhängige Menschen ALLES.

Wie werden Ersatzgefühle gelernt?

Fanita English, eine Schülerin von Eric Berne, hat intensiv zu diesem Thema geforscht und ein Standardwerk der TA dazu veröffentlicht. Sie betont, dass Ersatzgefühle entweder direkt sprachlich über die Bezugspersonen vermittelt werden: „Du benimmst dich völlig daneben. Wie kannst du nur so wütend (eifersüchtig, neugierig, ausgelassen…) sein!“ Das Kind lernt: Ich darf auf keinen Fall solche Gefühle wahrnehmen oder gar zeigen, dann passiert etwas ganz Schlimmes! Und es fühlt sich schlecht. Es realisiert unbewusst: Dieses schlechte Gefühl darf ich nicht haben.
Es kann nach Fanita English auch sein, dass die Bezugspersonen ein Gefühl einfach tabuisieren, also z.B. Traurigkeit überhaupt nicht fühlen oder beim Namen zu nennen. Dann kann das Kind beschließen, dass es diese komische Emotion wie z.B. Tränen in den Augen besser vermeidet und dass es das nicht geben sollte.

Und wo gehen die Ursprungsgefühle dann hin?

Bild: Ali Yahya, Unsplash

Bild: Ali Yahya, Unsplash

Die Gefühlsenergie des verdrängten Ursprungsgefühl bleibt da. Darauf hat der Neurobiologe Antonio Damasio hingewiesen. Grundgefühle sind körperlich angelegt. Es entsteht also so etwas wie eine „Gefühlsumleitung“. Vielleicht bekommen wir als Kinder für das Zeigen von Traurigkeit (als Ersatzgefühl für Ärger) Anerkennung? Und werden dann in den Arm genommen?
So etablieren sich nach und nach Ersatzgefühle im Innenleben von Menschen. Übrigens haben fast alle Menschen ein unterentwickeltes Gefühl, das sie mit einem anderen überdecken.
Und was ist, wenn wir mit den Ersatzgefühlen erwachsen geworden sind?

Ersatzgefühle springen auch als Erwachsene einfach an, wenn…

…eine Situation entsteht, in der das ursprünglich unterdrückte Gefühl eigentlich angemessen wäre. Das passiert ziemlich häufig. Dann wird z.B. ein Mann laut und poltert los, wenn er einen Verlust erlebt hat und eigentlich traurig ist.
Vielleicht hat meine lächelnde Bekannte die folgende Botschaft ihrer Eltern als Kind oft gehört und erlebt: „Sie ist unser Sonnenschein… sie verbreitet, egal wo sie ist, gute Laune. Ohne sie würde es in unserer Familie traurig zugehen.“ Es könnte gut sein, dass sie beim Ausdruck von Ärger als Kind keine Nähe und Zuwendung erfahren hat, aber immer, wenn sie zufrieden oder fröhlich war.

Ersatzgefühle irritieren andere

Zurück zu meiner Bekannten und zu mir beim Wochenendeinkauf. Ich kann fühlen, was sie fühlt. Ich bin in Resonanz mit ihrem merkwürdigen Gefühlsausdruck und spüre , dass ihr Gefühlsausdruck nicht zu dem passt, was sie mir erzählt. Ich spüre das körperlich. Der Kontakt zu ihr wird für mich beschwert, obwohl ich sie mag.
Ein Resonanzphänomen – so nennt es Hartmut Rosa, Professor für Soziologie und Autor des aktuellen und sehr spannenden Buches „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“.
Ich fühle ihre Dissonanz in mir. Ganz direkt.
Wie können wir damit umgehen? Wie können wir auf Gefühlsdissonanzen anderer Menschen reagieren und – noch viel bedeutsamer – unsere eigenen Ersatzgefühle entlarven und das darunter liegende echte Gefühl „erlösen“?
So leicht ist beides nicht. Es braucht Zeit. Und es lohnt sich. Denn wir schützen uns dadurch erwiesenermaßen auch vor Burnout, denn Emotionale Dissonanz gilt als Burnout-Treiber.

Guter Umgang mit Ersatzgefühlen

Ich habe meiner Bekannten auf meinen wackeligen Füßen gesagt: „Du, ich wäre an deiner Stelle ganz wütend auf deine Chefin geworden!“ Das hat zunächst mal mir selbst gut getan und meinen wackeligen Zustand beendet. Gleichzeitig biete ich ihr was „Echtes“ an, eine gute Resonanz in Form eines angemessenen Gefühls. Was sie damit macht, ist ihre Sache. Jedenfalls hat sie aufgehört zu lächeln und mich stattdessen irritiert und auch wach angeschaut.

Was uns selbst hilft, um ein taubes Gefühl zu befreien, besteht zunächst darin, überkommene, falsche Mythen über Gefühle zu entstauben: Jungs weinen nicht. Kleine Mädchen sind nie zornig. Indianer kennen keinen Schmerz. Angsthasen brauchen wir nicht. Und so weiter.
Wir können uns unseren Gefühlen im Alltag bewusst zuwenden, sie interessiert erforschen.
Und dann können wir uns auch dem verlorenen Gefühl liebevoll zuwenden und nachreifen, ganz allmählich, mit Geduld. Manchmal mit professioneller Unterstützung. Ein lohnender Weg.

Gefühlsbefreiung

Bild: Aiony Haust, Unsplash

Bild: Aiony Haust, Unsplash

Vielleicht geht es so: Die verdrängte Traurigkeit traut sich allmählich heraus in Form kleiner Tränen eines jungen Mannes, der noch nie vor seinen Kindern geweint hat. Er wird zum guten Gefühlsvorbild für seine Kinder. Oder so: Die erlöste Angst lässt einen jungen Motorradfahrer langsamer als seine Kumpels vor ihm die Haarnadelkurve nehmen, weil er Angst endlich spüren kann. Und er beschützt sich dadurch selbst.
Der Ärger meiner Bekannten traut sich vielleicht als schüchternes Nein ans Tageslicht.
Egal wie. Hauptsache, das abgeschnittene Gefühl darf aus seinem Dornröschenschlaf erwachen und sich ausprobieren. Ermutigende und resonanzfähige Mitmenschen sind beim Neulernen übrigens auch sehr hilfreich.
Und natürlich ist es dann auch an der Zeit zu lernen, das neue Gefühl erwachsen auszudrücken. Bei Ärger nicht wutentbrannt an die Decke zu gehen oder der Chefin die Tür vor der Nase zuzuknallen. Bei Traurigkeit zu lernen, wo sie gut und sinnvoll ausgedrückt werden kann und welche sozialen Situationen dafür weniger geeignet sind. Die eigene Angst steuern lernen.

Aristoteles sagt es so:

Wer zum Zorn fähig ist, verdient Respekt,
da der Eifer der Seele ihn zu großen Anstrengungen antreibt…
Unverzichtbar das kluge Kalkül:
Wie, wem, worüber und wie lange man zürnen soll…

Ich vermute mal, dass Aristoteles auch mit Ersatzgefühlen zu tun hatte – wie fast alle Menschen. Und dass er daran gewachsen ist.

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