Ein Lob der Gefühle

Kennen Sie das auch?
Ich laufe durch die Fußgängerzone meiner Stadt und ein Mensch vor mir lässt seine leere Zigarettenschachtel oder ein Verpackungspapier fallen, fast unbemerkt.

Ärger

Bild: Egor Barmin, Unsplash

In mir steigt Ärger auf! Soll ich ihn ansprechen oder soll ich nicht?

Alles läuft in Sekundenschnelle ab und ich muss es sofort entscheiden. Oder hat mein Körper es schon entschieden? Mein Beine werden warm und fest, meine Schritte größer. Entschlossen hebe ich die Schachtel bzw. das Teil auf, beschleunige meinen Schritt und hole den Menschen etwas außer Atem ein:
„Guten Tag, kann es sein, dass Sie dieses hier verloren haben?“

Die Reaktionen der Menschen sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Von einem freundlichen „Oh, das war tatsächlich ich?“… bis zu einem ungehaltenen „Was fällt Ihnen denn ein, haben Sie nichts Besseres zu tun?“

Ohne meinen Ärger hätte ich diese schnelle und klare Konfrontation nicht geschafft. Manche Menschen sagen ja auch über eine Situation, in der sie heftig reagiert haben: Es ist einfach in mich gefahren!
Was ist dieses „es“?

„Es“ sind eigentlich noch keine Gefühle, sondern eine Vorstufe: Emotionen.

Nach dem amerikanischen Neurobiologen Antonio Damasio beruhen alle Gefühle auf Emotionen. Emotionen sind primäre Körperreaktionen und sie sind in jedem Menschen neuronal angelegt. Ihre Funktion ist, die Grundbedürfnisse und das Überleben zu sichern.

Sie bilden sich ausgehend vom limbischen System über die Nervenleitbahnen in Bruchteilen von Sekunden im Körper ab, z.B. durch das Anspannen von Muskeln, das Weiten der Augen, durch die Veränderung der Atmung. Sie stellen über spezielle Körperempfindungen Energie zum Handeln bereit.
Wie tun sie das?

Nehmen wir ein Beispiel, in dem Angst entsteht.

Angst

Bild: Leio McLaren, Unsplash

Ich bin mit einer Freundin in einem geliehenen Kleinwagen auf Teneriffa unterwegs, wir wollen die Gegend um den Vulkan Teide erkunden. Ich freue mich auf die Fahrt, ich finde Vulkane faszinierend. Wir wollen nah dran. Meine Freundin ist eine sichere Autofahrerin. Wir fahren schweigend. Nach einiger Zeit des Fahrens merke ich, dass meine Hände schweißnass sind. Die schmalen, unbefestigten Schotterstraßen weiter oben auf dem Berg bestehen aus nichts als Kurven, links und rechts sind oft steile Abhänge. Mein Herz klopft. Mein Hals ist eng. Ich halte mich am Sitz fest. Irgendetwas passt gar nicht, sagt mein Körper.

Ich fasse mir (m)ein Herz und sage mit flatternder Stimme: Du, halt an! Ich will nicht höher fahren, das ist mir hier zu unheimlich. Ich hab Angst!“ Zum Glück willigt sie ein, wir wenden und fahren einige Kilometer weiter bergabwärts zu einem Parkplatz und gehen von dort zu Fuß weiter. Ich bzw. mein Körper entspannt sich langsam.

Was ist passiert? Mein emotionales Meldesystem hat Alarm gesendet und mich gewarnt und damit beschützt. Es hat so schnell und unmittelbar funktioniert, dass es mir keine Zeit zum Nachdenken und Diskutieren gab. Meine eindeutigen körperlichen Reaktionen haben mich zum sofortigen Handeln bewogen – zum Glück! Ich mag Vulkane noch immer und habe erlebt, dass ich nicht mehr so ganz nah dran sein muss.

Emotionen sind, so nennt es Damasio, „Funken des Lebens“.

Funken

Bild: Jez Timms, Unsplash

Gut, wenn diese Funken des Lebens gut funktionieren und uns nicht in unserer Kindheit durch Einschränkungen oder vorgelebte Tabus vorübergehend verloren gegangen sind.

Und was sind dann Gefühle? Gefühle sind die Namen, die Emotionen benennen und kategorisieren. Anders gesagt: Sie sind durch Sprache gesetzte Begriffe für emotionale Zustände und Empfindungen. Als Kinder lernen wir diese Begriffe in vielen kleinen Situationen, etwa so:

Ein kleines Kind wird von einem großen Hund angesprungen, es schreit und läuft zu seinem Vater, findet dort Schutz. Der Vater sagt: Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben, ich bin ja da.
Das Kind lernt: Aha, Angst heißt das, was ich da gerade fühle – und gut, dass Papa da ist. Es hat seine körperlichen Empfindungen mit dem Begriff Angst verbunden und die Erfahrung gemacht, dass es sich schützen kann. Eine gelungener Lernmoment.

Angst hat den Auslöser „Gefahr“ und seine Funktion ist „Schutz“ – sagt der Transaktionsanalytiker George Thomson. Und weiter: Der Auslöser von Traurigkeit ist „Verlust“. Ihre Funktion ist das Loslassen. Der Auslöser von Ärger ist Frustration und seine Funktion ist die Veränderung oder Grenzsetzung.

Er nannte diese drei wichtigen Gefühle Grundgefühle. Angst. Traurigkeit. Ärger. Später ergänzten andere Transaktionsanalytiker diese Sammlung und fügten Freude und Schmerz als weitere Grundgefühle hinzu.

Jedes dieser Grundgefühle hat seinen speziellen Auslöser und eine sinnvolle Funktion, so dass Orientierung in der Landkarte der Gefühle entstehen kann.

Mit unseren Gefühlserfahrungen, die wir im Laufe des Lebens sammeln, können wir die jeweiligen Emotionen und Gefühle steuern und das ist gut so. In einem beruflichen Konflikt können wir als Erwachsene entscheiden, wie wir das damit verbundene Gefühl (meist ist es Ärger) nutzen wollen. Wann es passt und wie wir es sagen. Um das gut zu können, sind viele Lernsituationen notwendig und es braucht auch die Erfahrung, wie ein Konfliktgespräch daneben geht, um es dann besser und anders machen zu können.

Ich schätze Gefühle bei mir selbst und anderen Menschen mittlerweile sehr. Gefühle widersetzen sich dem heutigen Mythos der Machbarkeit. Sie lehren uns, dass wir nicht alles im Griff haben können.
Sie entstehen ohne unsere Einwilligung, können verstören und irritieren. Gefühle mit anderen Menschen zu teilen, verbindet und ermöglicht eine tiefe Zugehörigkeit. Manche Gefühle brauchen ein Gegenüber, um ihre Kraft zu entfalten, besonders Freude und Traurigkeit.

Noch einmal Damasio: „Der Körper ist die Bühne der Gefühle.“ – Wie wahr!

Diese Bühne gut zu bespielen, das braucht viel Erfahrung und Wohlwollen den Gefühlen gegenüber. Bei sich selbst und anderen.
Das Zusammenspiel von Körper, Fühlen, Denken und Handeln gilt es immer neu zu justieren. Auch als Erwachsene und lebenslang.

Kinder

Bild: Michael Nunes, Unsplash

Wenn wir mit Kindern und Jugendlichen arbeiten oder leben, ist es wichtig, ihnen einen reichen Erfahrungs- und Lernraum mit Gefühlen zu ermöglichen.
Ihren Ärger zu würdigen, auch wenn er noch unbeholfen oder zu heftig daherkommt. Sich Zeit für Gespräche und gemeinsames Nachdenken über das Erlebte zu nehmen. Angst zu respektieren und Interesse dafür zu zeigen, wofür sie gut sein könnte. Traurige Situationen ernst nehmen, Zeit dafür geben und Abschiede von Menschen, Dingen, Lebensphasen erfahrbar werden lassen.
Und natürlich Freude zeigen in allen Facetten! Freude ist beziehungsstiftend und stellt pralle Energien für alle möglichen neuen Vorhaben bereit.

Und was ist, wenn Kinder in ihrem Gefühlslernen nachhaltig eingeschränkt werden und bestimmte Gefühlsqualitäten gar nicht ausdrücken dürfen? Und deswegen als Erwachsene z.B. immer nur „cool“ sind? Oder sich immer wieder ohnmächtig fühlen, obwohl eigentlich Ärger in einer Situation passender wäre?

Darüber schreibe ich im nächsten Blog-Beitrag.

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